Hier die interessantesten Fragen zum Buch an die Autorin:
Was ist Tabeas Störung?
Tabea hat nach dem Diagnosesystem DSM-5 eine Soziale Phobie (ausschließlich in Leistungssituationen). Soziale Phobie gehört zu den Angststörungen.
Wieso erkrankt Tabea an einer Angststörung?
Folgt man dem verbreiteten Vulnerabilitäts-Stress-Modell, hat jeder Mensch von Geburt an und durch Erfahrungen verändert eine Vulnerabilität für psychische Störungen. Manche Menschen sind also anfälliger als andere psychisch zu erkranken. Als Auslöser für Angsterkrankungen wie auch für andere psychische Erkrankungen gelten oft lebenseinschneidende Erfahrungen. Bei Tabea sind es in diesem Buch der Umzug, der zum Verlust der besten Freundin führt, und der Übergang in die neue Schule.
Gibt es einen Grund, wieso Tabeas Angst den Namen Tabulu trägt?
Tabulu kommt vom Wort Tabu. Da Angsterkrankungen in unserer Gesellschaft leider immernoch ein Tabuthema sind, war Tabulu ein passender Name für Tabeas Angst. Psychische Erkrankungen werden aus der Befürchtung, stigmatisiert zu werden, oft verschwiegen. Auf diesen Missstand wollte ich hinweisen.
Warum sieht Tabea plötzlich dieses „Monster“, als sie sich vor der Klasse vorstellen soll?
Als Tabea sich vorstellen soll, bricht ihre Angsterkrankung aus: das anfangs noch kleine Wesen auf Tabeas Schulter mutiert im Handumdrehen zu einer riesigen, bedrohlichen Schlange und bringt Tabea dazu, ihre erste Panikattacke zu erleben. Einige typische Symptome solcher Attacken werden dabei beschrieben: Zittern, Herzklopfen, Schwindel, Ohnmachtsgefühle, Gefühlsferne (Depersonalisation) und Entfremdung (Derealisation).
Solche Panikattacken können im Rahmen von verschiedenen Angststörungen oder aber bei anderen psychischen Erkrankungen vorkommen. Sie sind aber keine Voraussetzung für die Diagnose. Manche Angsterkrankte hatten noch nie eine Panikattacke.
Wieso wird Tabulu erst immer größer und dann kleiner?
Tabulu ist Tabeas Angst und je mehr Angst sie hat, desto größer und mächtiger wird die Angst. Wenn Tabulu weniger Angst erlebt, dann wird auch Tabulu kleiner.
Wieso begleiten Figuren wie Tabulu die Betroffenen, auch wenn gerade keine angstauslösende Situation da ist?
Der Krankheitsverlauf bei Angststörungen geht meistens mit Schwankungen einher. Die Lebenssituation kann sich sehr schnell ändern und die Betroffenen können kaum vorhersagen, wann sich die Störung wieder verstärkt zeigt. Psychische Störungen verschwinden oft nicht gänzlich oder von allein, sondern neigen zur Chronofizierung. Eine Anfälligkeit ist da, auch dann, wenn sich die Erkrankung aktuell nicht im Verhalten oder Erleben der Betroffenen zeigen sollte. Im Buch „Tabulu“ wird dies dadurch verdeutlicht, dass die Personen mit Angststörungen (Tabea, Frau Ringel, Nieke und Kalle) seit ihrer Erkrankung ihre Ängste (Tabulu, Ringuru, Nibärli und Kamalander) bei sich tragen und damit jeden Tag leben müssen.
Tabulu steht gleichzeitig auch für Überzeugungen, die sich durch das Scheitern in sozialen Situationen gebildet haben. Dieses „negative Selbstkonzept“ beinhaltet die Überzeugung, selbst weniger zu können als andere (Inkompetenz), und die Überzeugung, dass die Anderen äußerst kritisch sind, also jedes Anzeichen von Angst oder Unfähigkeit bemerken würden. Beim nächsten Zusammentreffen mit Menschen schießen solche Gedanken dann ganz „automatisch“ wieder in den Kopf und beeinflussen, wie wir uns verhalten. Kommt es dann zu erneutem „Scheitern“ oder auch Vermeiden der sozialen Situation, bestätigt sich die Überzeugung und verfestigt damit die sozialen Ängste (siehe auch Katrin Junghanns-Royack & Thomas Heidenreich in daz – Die Angstzeitschrift, 2008, Heft Nr. 44).
Wieso tragen die Figuren wie Tabulu eine rote Schleife:
Die Bänder zeigen, wem sich die Wesen zugehörig fühlen. Tabea, Frau Ringel, Nieke und Kalle haben ihre Ängste als zu ihnen zugehörig akzeptiert. Als Symbol dessen tragen die Angstfiguren in dem Buch eine Schleife - aber erst, nachdem die Person sich mit ihrer Angst befasst hat.
Leider sind psychische Erkrankung wie z.B. Angststörungen Tabuthemen. Betroffene Menschen und ihre Umgebung schämen sich dafür bzw. zeigen wenig Verständnis. In MEIN TABULU ist eine Wunschzukunft dargestellt: hier steht das Umfeld in Form von Frau Ringel der psychischen Erkrankungen offen entgegen und unterstützt den psychisch erkrankten Menschen mit seinen Schwächen und Stärken.
Die Schleifen der Figuren sind rot, weil rot Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dies sollten die Schleifen auch hier im Buch tun. Der Leser sollte darüber nachdenken: Wieso tragen diese Figuren die Schleife und solche Gedanken sind leichter hervorzulocken, mit einer aufmerksamkeitserregender Farbe.
Was passiert bei dem Gespräch zwischen Tabulu und Tabea?
Im Zustand der Not begreift Tabea, dass sie durch die Konfrontation mit Tabulu etwas ändern kann: alles andere hat sie ja schließlich schon probiert. Dieser Akt der Verzweiflung bringt Verständnis über sich selbst und über die eigene Angst mit sich. Tabea befasst sich mit ihrer Angst und begreift Tabulu als einen Teil von sich, der nicht bekämpft sondern akzeptiert und in die eigene Biographie integriert werden sollte.
Die nächsten Tage beschäftigt sie sich mit Tabulu, malt es an und lernt es zu akzeptieren. Mit der Angst geht Tabea nun in die Schule und erzählt Frau Ringulu davon. Tabea hat großes Glück, dass ihre Lehrerin als selbst angsterkrankte Person viel Verständnis zeigt, was die beste Voraussetzungen für eine Verbesserung der Störung bietet.
Hoffentlich wird in den nächsten Jahren das Wissen über psychische Erkrankungen beim der Erziehungspersonal wachsen so dass sich mehr Lehrerinnen &Lehrer ein Beispiel an Frau Ringel nehmen.
Wieso steht an der Tafel „be the change“?
Es geht darum, dass wir Erwachsenen verstehen, dass die Veränderung im Kleinen beginnt. Wir müssen die ersten Schritte tun, um für mehr Akzeptanz und Toleranz gegenüber psychischen Erkrankungen in unserer Gesellschaft zu sorgen. Es ist ein kleiner Hinweis darauf, die Veränderung selbst zu starten. Lass uns die Veränderung sein!
Aufgaben von Tabea, Nieke und Kalle beim Vortrag:
Hier bewegen wir uns im Bereich einer Utopie: Jedes Kind kann in der Geschichte Aufgaben übernehmen, die seinen Stärken und Interessen entspricht. Leider ist unser Schulsystem in seinen Anforderungen steif und erwartet einheitliches Können, obwohl klar sein müsste, dass jeder Schüler unterschiedliche Stärken und Schwächen hat.
Frau Ringel, die Klassenlehrerin, hat durch ihre eigene Angsterkrankung mehr Verständnis für Tabea und ihre Erkrankung. Sie versteht, dass es kontraproduktiv wäre, Tabea zu zwingen, vor der Klasse zu sprechen. Eine solche Konfrontation sollte bestenfalls im Rahmen einer Psychotherapie erfolgen. Frau Ringel zeigt statt dessen Verständnis, unterstütz Tabea auf ihrem Weg ohne unnötigen Druck aufzubauen: So hat Tabea gute Voraussetzungen ihre Angststörung im Griff zu bekommen und damit zu leben. Im Buch geht Tabea dann sogar den ersten Schritt in diese Richtung und sagt einige Worte von sich aus vor der Klasse. Eben: ohne Druck.
Im Falle einer (psychischen) Erkrankung wäre es auch in der Realität wichtig, den Schülern mit gravierenden psychischen Problemen den Druck zu nehmen und bei chronischen Fällen einen Nachteilsausgleich zu gewähren, sowie es auch in der Rechtsordnung steht. Wenn Tabeas Lage also bestehen bleiben sollte und sie extrem unter Auftritten vor der Klasse leiden würde, bestünde der Nachteilsausgleich darin, dass sie keine Vorträge oder mündliche Prüfungen halten muss, sondern Ihre Leistung in schriftlicher Form zeigen kann.
Leider werden in Fällen von psychischen Erkrankungen diese Rechte sehr selten angefordert oder wenn sie angefordert werden, werde sie aus Unwissenheit der Entscheider nicht zugestanden: rechtlich gelten über sechs Monate lang andauernde psychische Erkrankungen nämlich als Behinderungen!
Hier die rechtliche Grundlage
§2 Absatz 1 des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch (SGB IX) und 3§ des Behindertengleichstellungsgesetztes des Bundes (BGG) geben eine Definition eines allgemeinen Behinderungsbegriffs: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“.
Der Begriff schließt auch länger andauernde und episodisch verlaufende Krankheiten wie psychische Krankheiten/Störungen mit ein. Das bedeutet, dass auch eine Person mit einer psychischen Störung das Recht hat, unter Berücksichtigung ihrer Erkrankung einen Nachteilsausgleich in der Schule und später im Studium zu bekommen. So wie kein blinder Schüler zum Lesen, kein gehörloser Schüler zum Sprechen und kein Rollstuhlfahrender Schüler zum Laufen gezwungen werden soll, so sollte auch keine Angsterkrankte gezwungen werden, Aufgaben so durchzuführen, dass damit große Qualen verbinden sind.
Was passiert bei dem Vortrag?
Tabea ist bei dem Vortrag hauptsächlich für die grafische Gestaltung zuständig. Darüber hinaus hat Frau Ringel sie ermutigt, ein paar Wörter zu sagen, wenn irgendwie möglich. Das tut sie auch, hat dabei etwas Angst und merkt, wie Tabulu sie piekt. Gleichzeitig bemerkt sie, dass diese Angst nicht zu einer monströsen Schlange ausartet. Das macht diese Erfahrung für sie zu einer sehr positiven. Durch die geschickte Vorgehensweise von Frau Ringel ist es nun viel wahrscheinlicher, dass Tabea beim nächsten Mal wieder ein paar Wörter mehr sagt.
Heilung oder immer krank?
Psychische Störungen wie Angststörungen können(!) sich wieder zurückbilden, wenn die betroffene Person die nötige Unterstützung erfahren. Eine Diagnose bedeutet nicht, dass diese Person immer sehr stark unter der Angst leiden wird. In guter Phasen kann sich Tabea später durchaus dazu in der Lage fühlen, einen Vortrag mündlich alleine zu halten. Später können in schwierigeren Lebensphasen wieder Situationen auftreten, in denen Tabulu wieder wächst, wächst und wächst und es Tabea unmöglich machen wird, vor einer Menschenmenge zu sprechen. In diesen Phasen sollte die Gesellschaft Rücksicht auf ihre Erkrankung nehmen und andere Formen von Leistung akzeptieren, z.B. Essays oder Videos.
Psychische Erkrankungen, die mehrere Monate anhalten,haben eine Gemeinsamkeit mit vielen anderen chronischen Erkrankungen: es gibt bessere und schlechtere Tage. Zum Glück können die Umgebung und unsere Gesellschaft lernen, Rücksicht zu nehmen sowie im Falle vieler körperlicher Erkrankungen auch schon geschieht.
Die „besseren“ und die „schlechteren“ Tage?
Wie bereits erwähnt, sind Angststörungen oft rezidivierend,das heißt sie treten immer wieder einmal auf. Personen, die einmal die Kriterien einer Angststörung erfüllt haben, haben eine größere Wahrscheinlichkeit, eine oder mehrere ähnliche Phase in Zukunft zu erleben. Zwischendurch kann es durchaus Zeiten geben, in denen sie „gesund“ sind, und aktuell keine Angst in den gefürchteten Situationen erleben.
Prävention – Wie können wir den Ausbruch der Erkrankung und Rückfälle verhindern
Um einen Ausbruch einer Angststörung präventiv vorzubeugen, ist Information über derartige Störungen der Ausgangpunkt. Es ist wichtig zu wissen, dass die Erkrankung immer wieder kommen kann. Es lohnt sich, schon auf die ersten Anzeichen zu achten und dann gezielt dagegenzuarbeiten. Eben darauf achten, „ob Tabulu, Ringuru, Nibärli oder Kamalander wieder anfängt zu wachsen“. Es ist auch von Vorteil zu erkennen, welche Auslöser es gibt und mit welchen Faktoren der Ausbruch am besten Fallen verhindert werden kann. Solche Resilienzfaktoren wie Unterstützung durch Bezugspersonen, Auszeiten im Berufsalltag, Gedankenreisen und Entspannungsübungen können gezielt genutzt werden.
Was tun, wenn ich verdacht habe, dass ein Kind eine Angststörung hat?
Zunächst das Kind unter vier Augen ansprechen und ihm zeigen, dass man seine Sorgen und Ängste ernst nimmt. Als nächstes können Hilfen angeboten und und Experten (z.B. Kinderärztin, Psychotherapeutin) aufgesucht werden. Je schneller man reagiert, desto weniger schwer kann die Störung verlaufen und eine Chronifizierung der Störung lässt sich evtl. verhindern.